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Kino künftig ohne Dokumentarfilme?


Arne Birkenstock ist für die Sektion Dokumentarfilm imVorstand der Deutschen Filmakademie. Mit »Beltracchi – Die Kunst der Fälschung« hat er 2014 den Deutschen Filmpreis für den besten Dokumentarfilm gewonnen.

Einsperren solle man jeden, der auch nur einen Euro Förderung in Dokumentarfilmproduktionen stecke – so äußerte sich jüngst der Betreiber einer Arthouse-Kinokette. Hat er da vielleicht recht? Unter den zum Deutschen Filmpreis 2016 eingereichten Dokumentarfilmen hat kein einziger die Referenzschwelle von 25.000 Zuschauern im Kino erreicht, viele blieben bei vier- oder gar dreistelligen Zahlen hängen. Auch die teureren, für ein größeres Publikum produzierten Filme bleiben unter den Erwartungen: Was 2011 Filmen wie „Taste the Waste“, „Gerhard Richter Painting“ und anderen noch gelang, haben jüngst nicht einmal Großproduktionen wie „Nowitzki“, „10 Milliarden“, „Wacken 3D“ oder der Oscar-Sieger „Citizenfour“ erreicht: die Marke von 100.000 Zuschauern zu knacken. Der Marktanteil deutscher Dokumentarfilme am Marktanteil uraufgeführter deutscher Filme ist von 6% im Jahre 2011 auf 2,7% in 2014 gesunken, wenn man das Ausnahmeprodukt „Die Mannschaft“ nicht mitzählt. Einen aktuellen Hoffnungsschimmer bietet nur German Krals „Letzter Tango“, der in der zweiten Woche schon mehr als 20.000 Zuschauer eingesammelt hat. Und doch: Gehört der Kino-Dokumentarfilm abgeschafft?

Die wenigsten Dokumentarfilme bekommen überhaupt noch die Zeit, im Kino zu laufen. Startspielzeiten wochentags um 16:30 sind keine Seltenheit und nach ein oder zwei Wochen verschwinden viele Filme ganz von der Leinwand. Kinos passen sich ihrem Publikum an und das Publikum geht eher zu den großen Eventfilmen in die Kinos und schaut andere Filme auf iPad, TV und Laptop. Und so war laut AG Kino der erfolgreichste Arthouse-Film des vergangenen Jahres auch kein Arthouse-Film und schon gar kein Dokumentarfilm, sondern die Originalfassung von James Bond mit „Spectre“.

Auch im Dokumentarfilm sind es die kleinen Events mit Regisseur oder Protagonisten im Zusammenspiel mit themenaffinen Verbänden oder Initiativen, für die Zuschauer in Kinos und andere Orte mit Filmprojektionen kommen. Wer nun – wie im aktuellen Entwurf zur FFG-Novelle – Produzenten und Verleiher dafür abstrafen will, wenn sie in Ermangelung spielbereiter Kinos ihre Filme AUCH in Schulen, Universitäten, Kirchengemeinden usw. zeigen, indem diese ZAHLENDEN Zuschauer von Pauschalvermietungen nicht mehr bei den Referenzmitteln angerechnet werden, agiert jedenfalls ganz im Sinne des oben zitierten Kinobetreibers. Wer ihnen außerdem auferlegt, diese Filme, wenn sie nach wenigen Wochen gar nicht mehr zu relevanten Zeiten im Kino gespielt werden, für fünf oder sechs Monate dem Publikum vorzuenthalten, bevor sie in anderen Medien weiter ausgewertet werden dürfen, der schafft den Kino-Dokumentarfilm ab.

Das ist sehr schade, denn deutsche Dokumentarfilme sind in den vergangenen Jahren immer cineastischer und international wettbewerbsfähiger geworden, was nicht nur die Ankäufe durch Netflix und andere Plattformen zeigen, sondern auch ein wahrer Preisregen: In den vergangenen zehn Jahren waren deutsche Dokumentarfilme sieben Mal für den Oscar und neun Mal für den Europäischen Filmpreis nominiert, sie gewannen einen Oscar, einen Golden Globe und drei Europäische Filmpreise. Deutsche Dokumentarfilme liefen seit 2005 regelmäßig in Cannes, Berlin und Venedig, gewannen in dieser Zeit zweimal in Locarno, je einmal in Sundance und San Sebastian und insgesamt 19 Mal auf den internationalen Wettbewerben der weltweit wichtigsten Dokumentarfilmfestivals in Toronto, Amsterdam, Sydney, Yamagata, Nyon und Leipzig.

An dieser Stelle vielleicht ein Satz zum Fernsehen: ARD und ZDF bleiben Partner für den Kino-Dokumentarfilm, aber die zuständigen und zumeist sehr engagierten Redakteure kämpfen auf verlorenem Posten. Das Quotendiktat hat den Bildungs- und Kulturauftrag längst verdrängt, mutlose Programmhierarchen setzen lieber auf Talk als auf Kino im Fernsehen: Es werden immer weniger Filme für immer weniger Geld auf immer späteren Sendeplätzen gezeigt. Das ist angesichts eines jährlich mit acht Milliarden Euro von der Gesellschaft finanzierten Systems schlichtweg absurd.

Aber auch die Filmemacher selbst haben ihren Anteil an der Misere: 2015 hatten insgesamt 137 (!) deutsche und ausländische Dokumentarfilme einen regulären Kinostart in deutschen Kinos – das sind viel zu viele und nur ein Bruchteil dieser Filme hat thematisch und formal wirklich cineastische Qualitäten. Und: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Budgethöhe und Erfolg. Wer sich die seit 2006 vom DFFF geförderten Dokumentarfilme anschaut, stellt fest, dass bis auf eine Ausnahme nur Filme mit Budgets über 400.000 Euro nennenswerte Zuschauerzahlen und/oder Nominierungen zum Deutschen Filmpreis erreichen konnten. Viel Geld macht nicht unbedingt gute Filme, aber höhere Budgets sind natürlich ein Indikator für eine höhere Professionalität und Erfahrung bei Produzent und Team, für ein gut entwickeltes Treatment und ein dementsprechend höheres Vertrauen bei Finanzierungspartnern in die Projekte.

Was also tun, wenn man den Kino-Dokumentarfilm nun doch nicht abschaffen will? Es sollten mehr Geld und Energie in die Stoffentwicklung von Dokumentarfilmen gesteckt werden und es sollte zum Normalfall werden, dass nicht jeder entwickelte Film auch produziert werden muss. Wir brauchen weniger Kino-Dokumentarfilme mit deutlich besserer Ausstattung. Zweitens müssen Förderer dringend auf die Veränderungen im Zuschauerverhalten und die damit einhergehenden veränderten Abspielstrategien der Filmtheater eingehen: Das Kino ist auch für erfolgreichere Dokumentarfilme zu einer Art Schaufenster mit sehr viel kürzerer Auswertungszeit geworden. Die erfolgreiche Kinoauswertung erfolgt in den allermeisten Fällen eher durch eine Abfolge von 20 oder 30 guten Events als mit regulärem und parallelem Kinoabspiel über viele Wochen. Den darüber hinaus zahlreich existierenden Menschen, die diese Filme gerne sehen möchten, sie aber im Kino nicht  finden, müssen diese Filme auf anderen Wegen zur Verfügung gestellt werden. Und, das Abspiel von Dokumentarfilmen auf großer Leinwand auch außerhalb des Kinos muss nicht nur erlaubt sein, sondern auch mit Referenzpunkten belohnt werden, wenn Kinos diese Filme nicht mehr spielen.

Wir brauchen den Dokumentarfilm, aber der Dokumentarfilm braucht Auswertungsbedingungen, die ihn sichtbar und zugänglich machen. Der aktuelle Entwurf zur FFG-Novelle tut das Gegenteil, indem er zeitgemäße Auswertungen blockiert, den Zugang zu Filmen behindert und das Idealbild einer guten, alten Zeit zementiert, die zwar wirklich gut war, aber leider definitiv vorbei ist.

Das oben gesagte gilt in weiten Teilen übrigens auch für den künstlerischen Spielfilm. Wer also jetzt auf veränderte Rezeptionsweisen mit der Abschaffung des Kino-Dokumentarfilms reagiert, wird in wenigen Jahren vermutlich dasselbe mit dem Arthouse-Spielfilm tun.
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Erschienen in Blickpunkt:Film April/2016